Räume aus Licht und Geschichte
Es war streng verboten, zu halten. Auf der Interzonenstrecke, auf der alten Bundesstraße B5 von Berlin nach Hamburg, durfte man vor Bahnübergängen nicht überholen. Überall war man gegenwärtig, von einem Paar Volkspolizisten auf der Straße, hinter einem Gebäude versteckt oder aus ihrem Dienstwagen heraus angehalten zu werden, Wagenpapiere und Führerschein vorzuzeigen, Kofferraum zu öffnen etc. und Strafgeld zu bezahlen. Nicht nur deshalb fehlten einem Muße und Gelassenheit, das zu beobachten, was man aus dem Augenwinkel am Straßenrand während der endlosen Ortsdurchfahrten von Staken bis Nauen und auch anderswo punktuell erkennen konnte. Hinter hohen Mauern oder mit schlechter Ostblockfarbe gestrichenen Holzwänden begleiteten den Interzonenpassagen architektonisch einförmige, zwei– bis dreistöckige Bauten. Diese meist aus der Nazizeit stammenden Zweckbauten dienten während der DDR Zeit als Quartier für die ärmlichen Besatzer, Mitglieder der ehemals so ruhmreichen sowjetischen Armee. Vor dem die Sicht versperrenden Wänden sah man beim Vorbeifahren — für deutsche Verhältnisse — exotisch angezogene Frauen. die auf dem Weg nachhause waren oder zu den Eingängen der Kasernen eilten. Häufig mussten sie am Straßenrand stehenbleiben, um den vorbei ziehenden Verkehr abzuwarten. Dann konnte man im Winter erkennen, wie sehr sie gegen die Kälte und Nässe in Tücher eingewickelt waren oder mit dicken Mänteln den Wetterunbillen trotzten. An einigen Stellen auf der mit zahlreichen Schlaglöchern versehenen und schlecht ausgebesserten Landstraßen standen sowjetische Militärpolizisten, und ein– oder ausfahrenden Militärfahrzeugen die Vorfahrt zu geben oder Fußgängern die Querung der vielbefahrenen Straße zu ermöglichen. Manchmal konnte man auch sehr junge, asiatisch aussehende Soldaten erkennen die zu Fuß im Bereich des Kaserneneingangs unterwegs waren. Das waren sie also, die Repräsentanten der großen Sowjetmacht, die hier im äußersten Westen ihren Machtanspruch behaupteten und für den durchfahrenden BRD-Bürger oder Ausländer den lebenden Beweis für das Vorhandensein des Kalten Krieges darstellten.
Als nach der Entfernung der politischen Korsettstangen die Wege zu den innerdeutschen Grenzen offenstanden und die ehemaligen Besatzer aus der Sowjetunion nach und nach das Terrain freigaben, wurde das eigene Land, das eigene Umfeld Gegenstand von neugieriger Erforschung. Die in der klassischen Ethnologie hauptsächlich in Untersuchungsbereichen, die bisher unter dem alten Stichwort »fremde Kulturen« ( Das wilde Denken, Claude Lévi-Strauss) zusammengefasst wurden, zur Anwendung kommende Feldforschung wird in der jüngeren Kunst zunehmend auf die eigene Kultur angewandt. Laurenz Berges braucht für die Begegnung mit dem Fremden nicht mehr exotische Länder. Seine Neugierde für diese Bereiche wurde gefiltert durch eine Phase der intensiven Beschäftigung mit dem Werk von berühmten amerikanischen Fotografen wie Walker Evans, Robert Frank, William Eggleston und Lee Friedlander. Parallel dazu konnte er in seinem Jahr als Assistent der New Yorker Fotografin Evelyn Hofer das dramatische Licht dieser so südlichen Metropole mit ihrer exzessiven Lebensintensität kennenzulernen. So war er nach seinem Studium an der Universität Essen und der Kunstakademie Düsseldorf (Meisterschüler bei Bernd Becher) vorbereitet auf diese Begegnung mit einer Geschichte. Der in seiner »Lehrzeit« gewonnene Maßstab für gute Bilder war das unbedingte Vermeiden von Klischees.
Wie kann man Klischees vermeiden? Der alte Begriff der »Photographie« meint eigentlich die Herstellung eines Bildes mit Hilfe von Licht (grch. phos, Gen. photos), das selbstständig ein Zeichen einschreibt (grch. graphein). Bei diesem Vorgehen sollte man tunlichst darauf achten, die eigene Vorstellung im Kopf, d.h. all das, was man schon weiß, bevor man sieht, außer acht zu lassen, Natürlich lässt sich dieses »Reinheitsgebot« nicht einhalten. Gleichwohl hat Laurenz Berges während seiner etwa fünfjährigen Beschäftigung mit den russischen Kasernen in Ostdeutschland versucht, möglichst wenig mit Symbolen, d.h. mit schon bekannten Zeichen, die für schon fertig geprägte Bildmuster stehen, zu arbeiten. Er hat sich in die Räume begeben und gewartet, bis das weiche Tageslicht die kargen Räume mit Volumen gefüllt hat. Dieses behutsame Konstruieren von Räumen mit Hilfe des einfließenden Tageslichts lässt sich vergleichen mit der Arbeitsweise von Paul Cézanne.
Der aus dem Impressionismus hervorgegangene Erfinder des Kubismus und der Begründer der Moderne hat meist von der Natur — häufig in der Provence — lange gewartet, bis sich nach und nach auf der Leinwand oder auf dem Papier aus Farben Formen ergeben haben, die dem Geschehenen in der Natur eine Körperhaftigkeit im Bild geben, die im Unterschied zu der perspektivisch gewonnenen Räumlichkeit einer umbegrifflichen Natur am nächsten kommen.
Dieses Vorgehen war getragen von einem unbedingten Wunsch nach Wahrhaftigkeit, möglichst nahe an die Natur zu kommen, Bilder zu schaffen, in denen das Dargestellte lebt. Wenn wir oben gesagt haben, dass die Fotografie die Kunst ist, die mit Licht zeichnet, so muss man bei den Bildern aus den ostdeutschen Kasernen einschränkend hinzufügen, dass das Tageslicht die Erzählung, die Logik der gesehenen Geschichte abpudert gegen die Geradlinigkeit.
Es schafft mit seiner erhellenden »Vernebelung« Raum für Atmosphäre und erinnerndes Eingedenken.
Wie sahen die Lebensumstände aus, von denen die Bilder berichten? In den meist besenrein geräumten Unterkünften sind nur wenige Gegenstände, Möbel, billige Schmuck– und Dekorationselemente, übrig geblieben. Verschiedene Betten, Matratzen, Blumenkästen, Vorhänge Wandpaneele mit Holzimitaten, aufgerollte Blumenmuster als Tapetenersatz und immer wieder altarartig klassifizistisch angeordnete Türaufbauten bilden die Bausteine für eine Nature Morte der Geschichte. In den Regel sind die Räume beim Auszug unversehrt erhalten geblieben. Eine Ausnahme bildet der Blick in einen kastenartigen Raum, dessen umlaufende, rautenförmige und ockerfarbene Tapete stark beschädigt ist (Abb. S. 11). Bei genauerer Betrachtung erkennt man den Grund. Wahrscheinlich wurden beim Entfernen des hölzernen (?) Fußboden die Wände schwer in Mitleidenschaft gezogen. Jetzt blickt man auf die nackten, mit einem kiesartigen, losen Belag verfüllten Zimmerboden. Die Türöffnungen als Tore in das Dunkle, Nichtsichtbare und vor allem ihre Pendants, die Fenster als Quellen des Tageslichts, spielen auf der von Laurenz Berges aufgebauten Bühne der Erinnerung eine herausragende Rolle.
Der Gedanke der leeren Bühne wird eher baufällig zum expliziten Thema, wenn Berges im leicht verdunkelten Veranstaltungsraum das spärliche Licht von rechts und links ans die Stirnwände heranführt (Abb. S. 21). Zwischen Ihnen öffnet sich die schmale, leicht erhöhte Vertiefung des Guckkastens. Wie schimmernde Eisschollen reflektieren die immer noch mit Bohnerwachs getränkten Fußbodenbretter den Schein des Lichts. Die rechtwinklig auf die Bühne zuführenden Dielenbretter verweisen zugleich auf die Leere des normalerweise Bedeutung und Spiel bergenden Raumkörpers. Wir erkennen deutlich, wie intensiv hier die Prosa des Alltags zu Wort kommt. Nur auf den zweiten Blick nimmt man die rechts und links die Pilaster des Bühnenrahmens flankierenden, leeren Fahnenhalter wahr.
Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass Berges ganz bewusst auf die Symbole verzichtet, die mit bestimmten Inhalten aufgeladen sind. Er entgeht damit der Gefahr, mit gängigen Bildmustern das vorzustellen, was man ungesehen einer Bedeutung schon zugeordnet hat. Er möchte weniger unterhalten als herausfordern, Diese Herausforderung bezieht sich hauptsächlich auf die Freisetzung der Energie, die man aufbringen muss, um sich aus den wenigen, eher kargen Requisiten des Leben in diesen Gehäusen vorzustellen. Die Armseligkeit der Wände, der lebensnotwendigen Möbel, des kleinen Handwaschbeckens wird wie von einer freundlichen Retusche ergänzt von den extensiven Bemühungen um ansprechende Ornamente in Gestalt des aufgerollten Blumenmusters oder der überwiegend in hellen Farben gehaltenen Tapeten. Deutlich kommt diese
Verschönerungsanstrengung auch bei der mit »Sprelacard« (eine in der DDR übliche Oberflächenbeschichtung) verbauten und einem rautenförmigen Ornament verzierten Betonsäule in der Mitte des Raumes (Abb. S. 37) oder bei dem pyramidenartigen Türausgang (Abb. S. 63), der mit hellbraunen Sandstein imitierenden Kunststoffpaletten verkleidet ist, zum Ausdruck.
Es ist nicht zufällig, dass die Serie der Kasernen mit einem Blick in eine Raumecke beginnt, die beherrscht wird von einem querrechteckigen, sprossenlosen Fensterfeld, dessen Sicht nach außen durch eine farblose, ziemlich lichtdurchlässige Vorhangfläche versperrt ist (Abb. S. 7). Der auf diese Weise charakterisierte leere Raum wird in kleineren, unteren Hälfte bestimmt von einem etwa hüfthohen Paneel, wahrscheinlich wieder aus Sprelacard. Während die das Fensterrechteck umgebende Wandfläche naturgemäß zeitlich verdunkelt ist, wird die rechte Wandhälfte vom Widerschein des einfallenden Tageslichts hell erleuchtet. Es ist, als schaute man im das von seinem Malerfreund Kersting geschilderte leere Maleratelier von Caspar David Friedrich.
In den Kasernenräumen sind die Akteure, der Maler Friedrich bzw. die Helden der ruhmreichen Sowjetarmee verschwunden. Laurenz Berges hat diese Räume allein mit dem Tageslicht belebt. Es ist als einziger Akteur zu sehen. Mit unbestechlicher Klarheit leuchtet es die Räume aus, sucht nach den Spuren der Abwesenden und wärmt zugleich die armseligen Behausungen mit der Weichheit des lebendigen Scheins.
Wenn man bedenkt, welcher kunstvollen Verführung und auch Verfälschung das Medium Fotografie fähig ist, so ist die Frage nach den »Reste(n) des Authentischen« (Titel einer 1986 in Essen gezeigten Ausstellung) mehr als berechtigt. Der alte, schäbige, hängengelassene Spiegel — er begegnet uns in zweifacher Form, einmal auf zartblauer und einmal auf bunter Blümchentapete — konfrontiert uns mit dem klassischen Bedeutungsträger aus der Bildikonographie der abendländischen Kunstgeschichte.
Der Spiegel als Pforte in eine andere Wirklichkeit, als den unmittelbaren Wahrnehmungsvorgang begleitete Retardierung und damit Kommentierung, wird bei Laurenz Berges bloß zu einer — den physikalischen Gesetzen unterliegenden — verkleinerten Verdoppelung, zur Tautologie des Vorhanden. Die geschickte Kamerastellung lässt die gegenüberliegende gleichansichtige Tapetenwand im Blickfeld des Spiegels als verkleinerte Durchsicht auf die dahinterliegende Fläche erscheinen.
Die literarische oder metaphysische Bedeutungsanreicherung wird durch diese Bildgestaltung gerade vermieden. Das Authentische erscheint noch einmal in seiner verkleinerten Form und bleibt so der Wahrnehmung des Betrachters in völliger Offenheit erhalten.
Kehren wir zum Schluß noch einmal zu dem leeren Atelier von Caspar David Friedrich zurück. Die leeren Kasernenräume in Ostdeutschland werden durch die Bilder von Laurenz Berges zu geschichtlichen Behausungen, zu »Orten der Erinnerung« (Virginia Heckert). Doch werden die Spuren der Geschichte nicht nur durch Ablichtung, durch Verkopplung festgehalten. Sie werden zu wirklichen Bildern geformt. Der wichtigste Faktor der Gestaltung — und gewissermaßen auch der »tatsächlichen« Geschichte — ist, wie schon mehrfach betont, das Tageslicht. Der Blick auf das schlichte Handwaschbecken mit den Spuren des über ihm ehemals montierten Spiegels ist in mehrfacher Weise geprägt von Licht, das durch ein unsichtbares Fenster fällt und kaum merklich ein unscharfes Fensterkreuz auf das kleine weiße Porzellanbecken und die Fehlstelle des Spiegels wirft. An die Stelle des Spiegels als Tor in eine andere, vielleicht bessere Welt ist das Tageslicht getreten. Als natürliche, lebendige Kraft der Gestaltung überwindet, verdrängt und hebt es in einem historischen Bildwerdungsprozess das Vanitas-Motiv auf und macht vergangenes Geschehen erneut der Wahrnehmung zugänglich. Mit den Bildern von Laurenz Berges sind die Geschichten der Menschen in den Kasernen von Karlshorst, Schönwalde, Potsdam, Wünsdorf und anderswo der Erinnerung und dem historischen Eingedenken zugänglich gemacht und damit tendenziell vor dem Vergessen bewahrt. In seinem Verzicht auf die erhöhte Perspektive, auf die voreilige Bedeutungszuweisung und im Vertrauen auf die Bildentstehung durch das behutsam die Räume modellierende Tageslicht ist ein Zyklus entstanden von »beinahe epischer Größe« (Virginia Heckert).