Ort & Erinnerung – auf der Suche nach der verlorenen Zeit?
I
1989 kehrte Laurenz Berges nach einem einjährigen Aufenthalt in New York nach Deutschland zurück. Berges, der sein Studium an der Folkwang-Universität in Essen bereits weitgehend abgeschlossen hatte, beschäftigte sich bis dahin eher mit journalistischer Fotografie. Während seines New Yorker Aufenthaltes hatte er, der ursprünglich aus Deutschland stammenden Evelyn Hofer assistiert, die bei ihren Bildthemen zu Amerika und New York, dem journalistischen Arbeitsprinzip beim Fotografieren eher entgegenstehend, mit viel zeitlichem Aufwand arbeitete. Evelyn Hofer hatte Laurenz Berges noch vor seiner Abreise ermuntert, sich Gedanken zu machen, womit er sich fotografisch nach seiner Rückkehr beschäftigen wolle, ihm geraten, Konzepte für Arbeiten und Werkserien zu entwickeln. In gewisser Weise hat sie damit einen initiierenden Anteil an der, in dieser Publikation vorgestellten frühen Werkserie von Laurenz Berges, der inzwischen rein künstlerisch arbeitet. Berges wählte für die Dokumentation von Cloppenburg eine Mittelformatkamera, die ihm trotz Stativ genügend Flexibilität ließ, auch wenn spontane und schnelle Aufnahmen oder gar Schnappschüsse so nicht möglich waren.
Die Werkserie Cloppenburg begleitet eine Ausstellungskooperation zwischen dem Museum für Photographie in Braunschweig und dem Kunsthaus Nürnberg, wo die Serie nun erstmals vollständig gezeigt wird.
Von Evelyn Hofer hatte Laurenz Berges Wesentliches für seine Arbeitsprozesse gelernt, die für sein künstlerisches Werk bis heute gelten. Wie diese recherchiert er lange in einem Umfeld, bevor er sich entschließt, eine Aufnahme zu machen. Er beobachtet, lässt die Atmosphäre des Ortes auf sich wirken und wartet, z.B. auf die für ihn perfekte Lichtsituation. Hierbei geht es ihm darum, mehr zu zeigen als das Offensichtliche, die jeweilige Stimmung und Aura eines Ortes herauszuarbeiten und hinterlassene Spuren aufzuzeigen. Charakteristisch ist bei Laurenz Bergesʹ Fotografie der Faktor Zeit. Zeit wird vor allem in den späteren Arbeiten zu einer ausgewiesenen bildnerischen Qualität. Nicht um des puren Dokumentationswillens entsteht eine Fotografie, sondern um einen subjektiven Zugang zum Ort zu bekommen und diesen festzuhalten. In dem frühen fotografischen Werk „Cloppenburg“ ist all das bereits angelegt.
Formal zeichnet sich Bergesʹ erste Werkserie „Cloppenburg“ durch eine Kombination aus Nüchternheit, Sachlichkeit und Subjektivität aus. Betrachtet man die ganze Serie, dann scheint es, sie sei – zumindest auf den ersten Blick – noch stärker dem dokumentarischen oder journalistischen Charakter verhaftet als spätere Arbeiten. Dennoch kann sich dieser erste Blick nie ganz Bahn brechen, zu abrupt, zu unerwartet endet der Bild– und beginnt der Interpretationsraum. Einerseits zeigen einzelne Fotografien, die für die späten 1980er-Jahre typischen Orts– und Landschaftsstrukturen auf, andererseits öffnen sie sich über das allzu Konkrete in eine allgemeinere, kollektivere Abbildung des Gezeigten. Sogar der serielle Charakter der Arbeit führt vom konkret Dokumentarischen weg, hin zur Narration eines Erlebnisraumes. Die Handschrift des Bildautors wird nicht nur greifbar, sie fokussiert und lenkt und zeigt eine „Weltsicht in der Form eines Dokuments“ (Thomas Weski).
II
Ort und Erinnerung, ist nicht nur der Titel der Ausstellung, die im Museum für Photographie in Braunschweig und im Kunsthaus Nürnberg präsentiert wird, sondern wichtige Merkmale für den Charakter des gesamten Werkes von Laurenz Berges. Ort und Erinnerung stellen dabei schon im Werkzyklus „Cloppenburg“ zentrale Prinzipien dar. Sie sind nicht zwei voneinander losgelöste Erzählstränge, sondern aufeinander bezogen, miteinander verwoben und vernetzt, sie wirken als Metaphern des Seins.
Orte sind einerseits Fixpunkte im Raum und zugleich den Veränderungen der Zeit unterworfen. Während der Ort beständig bleibt, spielt die Zeit an, mit und in ihm. Der Zugang zu einem Ort ist daher immer subjektiv, bestenfalls kann er für eine gewisse Zeit auf eine objektive, allgemeingültige Gleichartigkeit verweisen. Laurenz Bergesʹ Aufnahmen der niedersächsischen Kreisstadt Cloppenburg und seiner Umgebung zeigen vom Menschen hergestellte Landschafts-, Stadt– und Wohnräume. Sie offenbaren auf der dokumentarisch erzählerischen Ebene des Bildes eine typische norddeutsche Landschaft, die durch die charakteristische Architektur oder Naturlandschaft definiert wird. Auf der künstlerischen Ebene jedoch erkennen wir Merkmale eines Gestaltungsraums, der mit Flächen, Licht, Linien und Farbe auch Bezügen zur Malerei erkennen lässt. Cloppenburg wandelt sich zum malerisch geprägten Imaginationsraum. Viele Aufnahmen erwecken den Eindruck der Zeitlosigkeit und trotzdem spüren wir, wie wichtig die Zeit als Faktor im fotografischen Werk von Laurenz Berges ist.
III
„Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewußtseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit her gekommen ist, um alles in mir zu wecken, in Bewegung zu bringen und wieder heraufzuführen?“
Das Zitat aus dem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust beschreibt eindrücklich, wie die Erinnerung versucht, Vergangenes aus den Tiefen an die Oberfläche der Gegenwart zu bringen. Bei den Bildern von Laurenz Berges über Cloppenburg kann man das vielfach so nachvollziehen. Vergangenes und verloren Geglaubtes erscheint plötzlich aus den Abgründen der Zeit. Das Zitat bestätigt außerdem, dass Erinnerung nur subjektiv sein kann, denn der komplexe Vorgang des Erinnerns findet im Innenraum eines Menschen statt. In der Serie Cloppenburg sehen wir u.a. Fotografien, die auf die 1980er–Jahre verweisen. In diesem Kontext sind die Fotos eindeutige Zeitdokumente und dennoch wirkt ihre künstlerische Handschrift über das Dokumentarische, denn für einen Teil der heutigen Betrachter können sie zur Quelle der eigenen Erinnerung werden. Sie verbinden, wie im Zitat von Proust, die Vergangenheit, „ein Augenblick einst“, mit der Gegenwart, einem „gleichen Augenblick“ im Jetzt. Die Erinnerung ist durch die äußere Zeit und den Innenraum des menschlichen Bewusstseins miteinander verknüpft. Nur auf den ersten Blick scheint Erinnerung ein Zustand der Zeit zu sein, sie ist zwar offensichtlich an die Zeit gebunden, gleichzeitig öffnet sie einen Raum im Bewusstsein, der in der Vergangenheit und in der Gegenwart liegt und rein subjektiv ist. Er besteht aus Wahrnehmungen, die an die Sinne gebunden sind: Gerüche, Farben, Licht und Schatten, Klänge, Geräusche, Stimmen, Jahreszeiten, Landschaften … . Die Erinnerung ist streng genommen ein Resonanz-Raum, der wie eine Verbindungskette in der Zeit wirkt, die über die Vergangenheit in die Gegenwart reicht. So wirken gerade Gegenstände auf Fotografien aus der Vergangenheit – und im Falle von Cloppenburg sind das bestimmte Interieurs, Automodelle, Architekturen oder eine Telefonzelle – wie Relikte, zu denen wir nur subjektiv einen Zugang herstellen und Erinnerungen hervorrufen können.
Der Fotografie von Laurenz Berges zugewandt, zeigt gerade die Untersuchung von Ort und Erinnerung, wie eingeschränkt die Vorstellung ist, dass Fotografie die Wirklichkeit abbilden würde. Auch das Foto, das auf der Basis eines dokumentarischen Stils wie bei Laurenz Berges entsteht, ist ein Hybrid, das Wirklichkeit vortäuscht, simuliert und doch letztlich in der Abbildung nur eine Spur zur Wirklichkeit legen kann. Diesem Gedanken folgend, könnten die Fotografien von Laurenz Berges einer ganz anderen Gattung zugeordnet werden: dem Poem.