Der Widerhall der Leere
― das Schweigen der Fotografien von Laurenz Berges
»Das Schweigen des Fotos. Ohne daß man sich dessen wirklich bewußt wird, ist dies eine der kostbarsten und originellsten positiven Eigenschaften des fotografischen Bildes […]. Schweigen nicht nur des Bildes, das auf jeden Diskurs, jeden Kommentar verzichtet […], um in gewisser Weise ›innerlich‹ gesehen und gelesen zu werden – aber auch ein Schweigen, in das es den Gegenstand, den es einfängt, taucht, indem es diesen aus dem dröhnenden Kontext der realen Welt herausreißt.« [1] Diese sich ganz allgemein auf die Fotografie als ›stummes‹ Bild in Abgrenzung zu den bewegten Ton-Bildern des Kinos und Fernsehens beziehende Äußerung von Jean Baudrillard trifft in besonderem Maße das Wesen der Fotografien von Laurenz Berges. Denn diese beeindrucken durch eine irritierend poetische, weil im Grunde zwiespältig schön anmutende Kargheit angesichts der Motive, die sie abbilden: Detailansichten von leeren, meist sichtbar verlebten Räumen aufgegebener Häuser. Es sind Bilder einer Leere, die von einem grundlegenden Schweigen ausgefüllt sind.
Seit gut 18 Jahren, als Laurenz Berges kurz nach Aufhebung der Visumspflicht noch als Student die DDR bereiste und sich ihm die russischen Kasernen der Roten Armee als markantes und zugleich befremdliches Bild im deutschdeutschen Grenzgebiet aufdrängten, prägen solche spezifischen Innenräume verlassener Häuser seine Arbeiten, auch wenn in der Zwischenzeit leer stehende Häuser und deren näheres Umfeld überall in Deutschland das Material für seine fotografische Auseinandersetzung sind.
Doch zunächst wurden, mit dem sukzessiven Abzug der Roten Armee nach 1990, für fünf Jahre die vorwiegend aus der Nazi-Zeit stammenden Zweckbauten der russischen Besatzer Gegenstand einer intensiven Erforschung. Sein ›unstillbarer Blick‹ für das vermeintlich Unscheinbare und dennoch Naheliegende, die poetische Bildkraft seiner subtilen und durchdachten Kompositionen hat eine schon in die Jugendzeit zurückreichende, prägende Inspirationsquelle in den Fotografien des 1978 erschienen Ausstellungskatalogs First and Last von Walker Evans. Laurenz Berges einjähriger Aufenthalt 1988 als Assistent bei der Fotografin Evelyn Hofer verstärkt sein ohnehin schon vorhandenes Interesse an der Bildsprache amerikanischer Fotografen wie Lewis Baltz, William Eggleston, Lee Friedlander und Robert Frank. Ihrem Rat folgend, sich auf ein Thema zu beschränken, verdankt sich die nach seiner Rückkehr aus den USA durchgeführte fotografische Aufarbeitung seiner Geburtsstadt Cloppenburg, einer typischen Kleinstadt in Niedersachsen und im Anschluss daran, die Abarbeitung an den leer geräumten Kasernen der Roten Armee.
Auch wenn Laurenz Berges strenggenommen nicht in Serien arbeitet und seine Fotografien als Einzelbilder angelegt sind, lassen sich doch bestimmte Motivgruppen ausmachen, die über Jahre hinweg konstant sein Werk durchziehen. Immer wieder begegnen uns unterschiedliche Türdurchgänge und Fenster (Stahnsdorf, 1993, Potsdam III, 1994, 1. Januar 2006, 2006, Cloppenburg I, 2006, Oldenburg, 2008 und Holz, 2008) in der Funktion von Schwellenräumen, die den Blick auf ein Dahinter zulassen, ihn aber oft genug auch verweigern oder durch einen Vorhang verschleiern. »Die Türöffnungen als Tore in das Dunkle, Nichtsichtbare und vor allem ihre Pendants, die Fenster als Quellen des Tageslichts, spielen auf der von Laurenz Berges aufgebauten Bühne der Erinnerung eine herausragende Rolle.« [2] Daneben finden sich mannigfaltige Variationen von Wandansichten, in einigen Fällen als Raum konstituierende Ecksituationen, häufig jedoch als extrem reduzierte, abstrakt minimalistische Oberflächenbilder. Es fällt auf, dass er seine (ohnehin schon klar komponierten) Motive vorwiegend aus einer streng frontalen und mit der Zeit nahansichtigen, die Raumdimension bewusst unterdrückenden Position heraus aufnimmt. Dadurch wird die für sein Werk charakteristische Flächigkeit der Komposition betont, die eine häufig irritierende, weil ambivalente Wechselbeziehung zwischen »Bildautonomie und Gegenstandssehen« [3] bewirkt. So sind wir bei seinen Fotografien immer wieder hin und her gerissen zwischen einem flächigen, die autonome Bildkonstruktion betonenden und einem räumlichen Sehen, das den Gegenstand als Motiv in den Vordergrund der Wahrnehmung rückt (Etzweiler, 2001 #1691oder Hannover, 2005).
Bei einer Reihe von frühen Bildern, die er 2004 anlässlich seiner Ausstellung »Places of Performance« in der Patricia Sweetow Gallery in San Francisco zeigt, liegt der Schwerpunkt auf der Raumkomposition und der damit verbundenen Bildwirkung. Die zu einer Serie zusammengefassten Veranstaltungsräume der ehemaligen Kasernen (Elstal, 1992 und Drögen, 1991) zeigen aus der Distanz heraus aufgenommene, meist die Symmetrie der verlassenen Räume unterstreichende Bildkompositionen, in deren Zentrum eine leere Bühne nicht nur als »Sinnbild einer Zeitenwende« [4] oder als »Bühne der Erinnerung« [5], sondern überhaupt als Sinnbild von Zeit, von Vergänglichkeit gelesen werden kann. »In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit.« [6] Zeit als »Koexistenz aller Vergangenheitsschichten« [7], als Ablagerungen von Erinnerung und Geschichte offenbart sich sinnbildlich auch in den verschiedenen, nun teilweise wieder freigelegten Tapetenschichten in der Aufnahme Holz, 2006.
Durch seinen objektiven, lakonischen Blick auf die nahezu leeren Räume wird jedoch auch hier ziemlich schnell deutlich, dass Laurenz Berges seine Bilder keineswegs als aufgeladene, mit Klischees ausgefüllte Zeichen konzipiert hat. Zu spärlich und uneindeutig sind die Informationen, die sie wirklich liefern. Es sind Räume, die mit einer besonderen Atmosphäre aufgeladen sind, »gleichsam Fassungen, Gefäße der Stille, Formulierungen der Stille« [8]. Angesichts dieser Fotografien wird man »zum einsamen Zuschauer vor der leeren Bühne eines Raumes, die Berges ohne jedes Pathos sachlich und distanziert ins Bild setzt.« [9]
Im Fall der Serie der Veranstaltungsräume drängt sich aufgrund des einheitlichen Motivs sowie einer meist zentralperspektivisch frontal ausgerichteten Aufnahmesituation ein vergleichendes Sehen auf, wie dies bei den Typologien von Bernd und Hilla Becher als Wahrnehmungsprinzip eingefordert wird. Obgleich Laurenz Berges seine Bildkompositionen keinesfalls solch strengen, einheitlichen Aufnahmeverfahren unterwirft wie es seine Lehrer tun, offenbaren sich im Vergleich der Räumlichkeiten dennoch interessante Ähnlichkeiten und Unterschiede dieser Zweckbauten. Besonders die Farbigkeit der Aufnahmen unterstreicht die Individualität und Atmosphäre eines jeden Raumes auf besonders eindrückliche Weise, also genau das, was Bernd und Hilla Becher unter anderem durch ihre Konzentration auf die Schwarzweißfotografie zu vermeiden suchten.
Der nackte Raum von Elstal, 1992 wird von einer durchgängigen grau-braunen Tonigkeit bestimmt. Einzig der zartblaue, horizontale Farbstreifen auf der Rückwand der Bühne hebt sich verhalten aus dieser Eintönigkeit hervor. Das wenige eindringende Tageslicht verleiht dem Raum eine entrückte, gebrochen schöne Atmosphäre, aus der die harmonisch ausgeleuchtete Bühne in der Tiefe des ansonsten spärlich beleuchteten Raumes fast wie ein (abstraktes) Bild im Bild hervorsticht. Laurenz Berges »hat gewartet, bis das weiche Tageslicht die kargen Räume mit Volumen gefüllt hat. « [10] Es ist ein behutsames Konstruieren von Räumen mit Hilfe des einfließenden Tageslichts, das dem Gesehenen, wie Ulrich Bischoff treffend schreibt, eine Körperhaftigkeit im Bild verleiht. Die präzise Ordnung seiner Kompositionen, in denen er das Sichtbare einer klaren Gliederung in Linien, (Farb-)Flächen und spezifischen Raumstrukturen unterwirft, trägt maßgeblich zu der Ausstrahlung seiner Fotografien bei. Im Zusammenspiel mit dem natürlichen Licht, das die leeren Räume und Raumansichten auf wundervolle Weise modelliert, erzeugt jene Klarheit der Bildkompositionen die besondere Atmosphäre, mit denen die Bilder von Laurenz Berges aufgeladen sind und worin ihr anfänglich beschriebenes Schweigen seinen Grund hat.
Zwar ist es keinesfalls so, dass uns durch die Fotografien nichts offenbart würde, im Gegenteil. Auch wenn sie vordergründig nicht auf politische oder historische Kommentare abzielen, was sich angesichts der aufgeladenen Örtlichkeiten durchaus anbieten würde, sprechen die Überreste, die als Spuren in den Räumen zurückgeblieben sind, sprechen die Räume auf ihre Weise für sich und geben einen vagen Hinweis auf das Lebensumfeld seiner ehemaligen Bewohner. Gottfried Boehms Feststellung, dass gerade die Abwesenheit von Gegenständen eine besondere Verdichtung der Erscheinung entstehen lässt, können wir anschaulich mit den Fotografien von Laurenz Berges erfahren. »Das ikonisch Dichte ist das (von der verbalen Sprache aus gesehen) Leerste am Bilde […]. Wir haben es dabei mit dem Paradox zu tun, daß die Unbestimmtheit gerade das anschaulich Dichteste ist, das worin die Bildlichkeit des Bildes am stärksten sie selbst, d.h. Erscheinung wurde.« [11]
Ein spannungsvolles Farbenspiel aus grauen, blauen, zartgelben und braunen Farbflächen dominiert die streng symmetrisch ausgerichtete Komposition der Fotografie Drögen, 1991. Eine erdrückend wirkende Kassettendecke aus dunkelbraunem Holz(imitat?) steht im Kontrast zu den hellen, verstaubten Holzdielen des Fußbodens. Die Struktur der Kassetten wiederum korrespondiert auf eigenwillige Art und Weise mit der Struktur der vier jeweils spiegelbildlich zueinander stehenden Fenster an den beiden Seitenwänden, die eine ausgewogene Beleuchtung des Raumes mit Tageslicht bewirken. Durch die sich perspektivisch nach hinten verjüngenden Deckenrippen bzw. Bodendielen wird unser Blick auf das (leere) Zentrum des Bildes gelenkt. Aus einer geöffneten Flügeltür in der Mitte der Bühnenrückwand strahlt uns das gleißende Tageslicht als weiße (unbesetzte) Bildfläche entgegen.
Es fällt auf, dass Laurenz Berges mit seinen Fotografien immer wieder das Bildhafte betont. Sei es, dass die leeren Wände selbst fast schon zur Leinwand seiner Fotografien werden, sei es, dass er mit den strengen Kompositionen die formale Bildqualität in den Vordergrund seines Interesses rückt. Selbst dann, wenn uns in einer äußerst kleinformatigen Fotografie Schwichteler, 2008 eine dieser roten (Plastik-)Blumen entgegenschreit und sich dennoch, zwar unbequem, aber standhaft, in die Komposition aus horizontal und vertikal gegliederten Farbflächen einfügt.
Ohne Titel (II), 2004 kann als ein programmatisches Bild im Werk von Laurenz Berges gelesen werden. Es gehört in die Zeit derjenigen Fotografien, die im Anschluss an die dokumentarische Aufarbeitung der Kasernenbilder ab Mitte der 1990er Jahre in den verlassenen, dem Braunkohletagebau weichenden Ortschaften zwischen Köln und Aachen, entstanden sind. Auch hier wendet Laurenz Berges sich hauptsächlich den verlassenen Innenräumen der schmucklosen Häuser in ausgestorbenen Geisterdörfern wie Etzweiler, Garzweiler, Altdorf oder Gesolei zu. Dazwischen schieben sich immer wieder vereinzelte Aufnahmen der unmittelbaren Umgebung (Altdorf, 2001 #1594), die vergleichbar dem Charakter ihrer Innenräume befremdlich stillgelegt wirken, jedoch viel deutlicher das Öde und Triste der topografischen Gegebenheiten herausstreichen.
Seit Ende der 1990er Jahre werden die Bildformate von Laurenz Berges zunehmend größer und wir haben es verstärkt mit flächigen Bildern, ohne Bildmittelpunkt zu tun. In dieser Zeit entstehen auch die ersten abstrakten Raumreduktionen, Etzweiler, 2001. Ohne Titel (II), 2004 gehört neben einer Reihe von Bildern wie Hannover, 2005 zu den extremsten Abstraktionen innerhalb seines Werks. Wenn ansonsten die Titel bei fast allen seinen Fotografien einzig den Ort und das Jahr der Aufnahme ausweisen, so bleibt uns in diesem Fall der konkrete Ort verschlossen. Das Bild von einem fehlenden Bild, das als feiner Negativabdruck auf der vergilbten und verstaubten Tapete zurückgeblieben ist, bildet den Auftakt in seinem Fotoband Etzweiler[12]. Wir können sein Bildformat bestimmen und selbst die Rahmenstärke zeichnet sich am unteren ›Bildrand‹ deutlich ab und dennoch zieht immer wieder das kleine, schwarze Loch des verschwundenen Nagels, gleich dem Detail des Bartheschen punctum, unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich. »Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt… Das punctum an einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).« [13] Es sind immer wieder diese kleinen, fast unscheinbaren Details, an die sich unser Blick heftet und an denen sich die kleinen ›Geschichten‹ der Bilder entfalten. So werden wir angesichts der Fotografien von Laurenz Berges zu aufmerksamen Spurensuchern mit dem Blick für das Unscheinbare in einer entrückten Welt der schweigenden Bilder.
[1] Jean Baudrillard: »Das perfekte Verbrechen«, in: Hubertus v. Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV 1980―1995, München 2000, S. 259 f.
[2] Ulrich Bischoff: »Räume aus Licht und Geschichte«, in: Laurenz Berges. Fotografien 1991–1995, München 2000, S. 85.
[3] Max Imdahl: »Cézanne-Braque-Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen«, in: Reflexion – Theorie – Methode. Gesammelte Schriften. Band 3, Gottfried Boehm (Hg.), Frankfurt am Main 1996, S.303.
[4] Richard Kämmerlings: »Form folgt der Destruktion: Laurenz Berges fotografiert rheinische Geisterhäuser«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2005, S. 48.
[5] Vgl. Anm. 2.
[6] Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 1987, S. 35.
[7] Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild, Kino 2, Frankfurt am Main 1991, S. 350.
[8] Günter Wohlfahrt: »Das Schweigen des Bildes«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 179.
[9] Rupert Pfab: »Laurenz Berges«, in: heute bis jetzt. Zeitgenössische Fotografie aus Düsseldorf. Teil I, Ausst.-Kat. museum kunst palast, Düsseldorf 2002, S. 115.
[10] Ulrich Bischoff: »Räume aus Licht und Geschichte«, in: Laurenz Berges. Fotografien 1991–1995, München 2000, S. 84.
[11] Boehm, Gottfried: »Zu einer Hermeneutik des Bildes«, in: Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt am Main 1985, S. 463.
[12] Laurenz Berges. Etzweiler, mit einem Text von Michael Lentz, München 2005.
[13] Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt am Main 1994 (3. Aufl.), S.36.
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