Indirekte Erzählung
Als Laurenz Berges 1985 in seiner Heimatstadt Cloppenburg in einer Buchhandlung ein Exemplar von First and Last von Walker Evans entdeckte, kaufte er sich den Band von seinem Geburtstagsgeld. Es war sein erstes Fotobuch und er schätzt es noch heute. Die 1978 erschienene Monografie ist ein reiner Bilderband, der mit exemplarischen Aufnahmen das Werk des legendären und stilbildenden amerikanischen Fotografen vorstellt. Die Lektüre der Fotografien wird von keinem Text gestört, lediglich der Klappentext des Schutzumschlags gibt kurz Auskunft über den Autor und beschreibt seine Arbeit. Das Buch enthält »Portraits, Straßenszenen und das, was Hilton Kramer die ›spezielle Evans-Landschaft‹ nennt, die Dinge, Strukturen, Oberflächen und Räume des amerikanischen Alltags: in denen er etwas Poetisches sah, etwas, das es zu schätzen und zu retten galt — Wohnräume, Straßen, Kirchen, Banken, Läden und Schilder, sie alle erzählen von den Menschen, die sie hervorgebracht, bewohnt oder verlassen haben.«
Walker Evans’ Fotografien gehören zum amerikanischen Kulturgut des 20. Jahrhunderts. Vor allem seine im Rahmen des Fotoprojekts der Farm Security Administration Mitte der 30er Jahre aufgenommenen eindrücklichen Portraits der an den Auswirkungen der großen wirtschaftlichen Krise und einer Dürre leidenden und von ihr gezeichneten Landbevölkerung des amerikanischen Südens haben sich in das kollektive Gedächtnis der Amerikaner eingeschrieben. Zusammen mit den Innenaufnahmen der ärmlichen Behausungen der Farmer ergibt sich ein visueller Zustandsbericht, der trotz seiner hohen bildnerischen Qualität vorrangig als dokumentarisch eingeordnet und als Gesellschaftsbild verstanden wird.
Unter einer dokumentarischen Fotografie wird eine Bildauffassung verstanden, die die Gegenstände scheinbar direkt und ohne offensichtliche Interpretation wiedergibt. Aufgrund der ihr zugesprochenen Neutralität steht sie für Glaubwürdigkeit, Nachvollziehbarkeit und damit für Anwendbarkeit. In einem Interview geht Walker Evans 1971 auf diese Eigenschaften ein, definiert aber seine Fotografie anders: »Dokumentarisch? Das ist ein sehr komplexer und irreführender Begriff. Und er ist nicht wirklich klar. Man braucht ein komplexes Ohr, um ihn zu empfangen. Der richtige Ausdruck wäre dokumentarischer Stil. Das Polizeifoto vom Tatort eines Mordes ist ein echtes Dokument. Dokumente dienen einem Zweck, die Kunst dagegen ist zweckfrei. Daher ist die Kunst nie Dokument, aber sie kann natürlich den Stil übernehmen.«
Mit dieser Unterscheidung zwischen einer dem angewandten Bereich zugeordneten Form der Fotografie und einer Fotografie, die sich aus künstlerischen Kriterien heraus entwickelt, sind die beiden Pole und unterschiedlichen Charaktere der Dokumentarfotografie beschrieben. Ist ihre traditionelle Form darauf gerichtet, die sichtbare Welt möglichst wirklichkeitsgenau wiederzugeben, steht der dokumentarische Stil für eine Weltsicht in der Form des Dokuments. Das ist ein entscheidender Unterschied, der die eine Fotografie im Dienst eines Auftraggebers sieht, während die andere sich auf eine Tradition des persönlichen Blicks und damit auf einen fotografischen Autor beruft. Während es bei der einen Art von Dokumentarfotografie also darum geht, mit fotografischen Mitteln eine möglichst genaue Darstellung der Welt zu erreichen, ist das Ziel der anderen, eine subjektiv begründete Vorstellung von Welt zu formulieren.
Mit Kunst und Fotografie hatte sich Laurenz Berges bereits in seiner Jugend beschäftigt. Seine Eltern sammelten informelle Kunst und die Auseinandersetzung mit ihr war selbstverständlich. Auf dem Dachboden des Hauses der Großeltern fand er die Schweizer Magazine Du und Magnum aus den 50er und 60er Jahren, die unterschiedliche Gebrauchsweisen des Mediums zeigten und ihn beeindruckten. Mit vierzehn Jahren bekam er eine Kamera geschenkt, richtete sich zu Hause eine Dunkelkammer in der Waschküche ein und vergrößerte seine eigenen Schwarzweiß-Aufnahmen. Von diesem Zeitpunkt an war es sein Berufswunsch, Fotograf zu werden. Im Rahmen seines Wahlfachs Kunst begann Laurenz Berges, eine Serie über einen Bahnwärter zu fotografieren, der in einem Stellwerk in Cloppenburg die Schranken bediente. Als er mit diesen Abzügen nach dem Abitur an der Folkwangschule in Essen angenommen wurde, arbeitete er gerade als freier Fotograf für die Neue Osnabrücker Zeitung. Sein Praktikum machte er bei der Fotoagentur Visum in Hamburg, wo ihn besonders einer der Gründer, der ehemalige Folkwangstudent Rudi Meisel, als Mentor betreute. Das Studium in Essen absolvierte Laurenz Berges fast ausschließlich bei der langjährigen Professorin Inge Osswald. Die Schule war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die einzige, aber eine der wichtigsten Ausbildungseinrichtungen für Fotografie in der Bundesrepublik Deutschland und stand noch immer unter dem Einfluss ihres charismatischen Leiters, dem 1978 verstorbenen Lehrer Otto Steinert. Dieser hatte in den 50er Jahren den Begriff der Subjektiven Fotografie geprägt, einer Fotografie, die sich an den Experimenten der Protagonisten des Bauhauses orientierte oder auch auf eine spezifische Form der Bearbeitung des Bildmaterials in der Dunkelkammer setzte. Neben der Propagierung dieser freien Form der Fotografie bestand Steinert im Rahmen der Ausbildung auf einer Beschäftigung mit dem Fotojournalismus, in dem er nicht nur eine Möglichkeit der Existenzsicherung sah. Dieser Tradition der Vermittlung folgte die Lehre im Prinzip auch noch zur Studienzeit von Laurenz Berges.
Bereits Anfang der 80er Jahre war das Interesse einer jüngeren Fotografengeneration an der neuen Ausdrucksmöglichkeit der Farbfotografie groß, und so richtete die Folkwangschule als erste Hochschule ein eigenes Farblabor ein. Die Studierenden nutzten die Farbentwicklungsmaschine unter Anleitung eines Laboranten, um ihre eigenen Abzüge herzustellen. Individuelle Farbinterpretationen waren so möglich und trugen zur Wiedererkennbarkeit ihrer Arbeiten bei. Diese Möglichkeit war attraktiv und auch ein Grund für Laurenz Berges, dort zu studieren. Nach einigen Semestern unterbrach er aber seine Ausbildung und arbeitete für ein Jahr als Assistent von Evelyn Hofer, einer deutschstämmigen Fotografin, die 1922 in Marburg geboren wurde und nach einer Ausbildung in der Schweiz 1942 über Mexiko nach New York gelangte, wo sie ab 1946 arbeitete und sich mit Städtebüchern und Portraits einen Namen gemacht hatte. Als Laurenz Berges ihr 1988 in New York assistierte, begegnete er so prominenten Modellen wie dem Architekten I. M. Pei, dem Künstler David Salle oder dem Fotografen Hans Namuth. In seiner freien Zeit traf er zufällig auf der Straße Fotolegenden wie Alfred Eisenstaedt oder Lee Friedlander. Im International Center of Photography besuchte er einen Vortrag von Berenice Abbott und im Museum of Modern Art entdeckte er das Fotoprojekt Waffenruhe von Michael Schmidt wieder, das er bereits ein Jahr zuvor bei seiner Premiere in der Berlinischen Galerie im Gropiusbau in Berlin und im Anschluss im Folkwang Museum in Essen gesehen hatte, und das nun im Rahmen der Ausstellungsreihe »New Photography« gezeigt wurde. Der Aufenthalt in New York war anregend, instruierend und informativ. In dieser Zeit fotografierte Laurenz Berges in Midtown Manhattan Straßenszenen, die von der Faszination der Metropole und ihrer Bewohner berichten und formal in der Tradition der amerikanischen Farbfotografie der 70er Jahre stehen. Von Evelyn Hofer übernahm Laurenz Berges die Arbeitsmethode, ein Thema zuerst schriftlich zu formulieren, mögliche Motivorte vor der Aufnahme zu besuchen sowie die jeweiligen Hintergründe und Zusammenhänge zu recherchieren.
Als Laurenz Berges, aufgeladen mit seinen New Yorker Erfahrungen, sein Studium in Essen wiederaufnahm, empfand er die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Dozenten, aber auch seinen Kommilitonen als zunehmend unbefriedigend. Er sah nun seine zukünftige Arbeit nicht mehr im fotojournalistischen, sondern im künstlerischen Bereich der Fotografie. Durch seine spätere Frau, die Grafikerin Claudia Ott, erhielt er zunehmend Kontakt zur Düsseldorfer Kunst– und Fotografieszene. Er lernte Axel Hütte, Thomas Ruff und Andreas Gursky kennen, die bei Bernd Becher an der Düsseldorfer Akademie studiert hatten, der dort seit 1976 eine Klasse für Fotografie unterrichtete. In dieser Zeit begann Laurenz Berges in seiner norddeutschen Heimatstadt Cloppenburg zu fotografieren. Der Kontrast zwischen dem pulsierenden Manhattan und der beschaulichen Kreisstadt mit 20.000 Einwohnern konnte nicht größer sein, aber dieser Unterschied ermöglichte es ihm, die vertraute Umgebung neu wahrzunehmen. In der Folge entstanden zwischen 1989 und 1990 mit einer Mittelformatkamera Farbaufnahmen, die Übergänge zwischen Stadt und Land, Wohngebiete und Landschaften zeigen. In diesen Fotografien formuliert Laurenz Berges eine von Sympathie getragene bildliche Analyse seiner Heimat. Die Fotografien gehen weit über das direkt Abgebildete hinaus und erzählen von den »charmanten Banalitäten« und prägenden Faktoren eines Lebens in einer ländlichen Kleinstadt.
Neben der homogen in verhaltenen Tönen gesteuerten Farbigkeit sind die zurückgenommene Gestaltung der Bilder und Präzision der Darstellung auffällig. Laurenz Berges arbeitete in der Tradition einer dokumentarischen Fotografie der 20er Jahre weiter, die in Deutschland ab Mitte der 70er Jahre, ausgehend von einer topografischen Fotografie in den USA, wiederaufgenommen und fortgeführt wurde. 1989 hatte Klaus Honnef in der Ausstellung In Deutschland – Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie die führenden Protagonisten Westdeutschlands, unter ihnen Bernd und Hilla Becher, Heinrich Riebesehl, Michael Schmidt und Wilhelm Schürmann sowie jüngere Fotografen aus Berlin und Düsseldorf präsentiert und sie im Katalog in einen historischen Bezug zu Fotografen wie Eugène Atget, August Sander und Walker Evans gesetzt. In seinem Text führt er den Begriff des Autorenfotografen ein, den er in Anlehnung an den Autorenfilmer definiert. Nach Honnefs Beschreibung schafft der Autorenfotograf in seinem Werk »eine fotografische Realität, die zwar authentisch ist, weil sie sich streng an die dokumentarischen Prinzipien der Fotografie hält, aber doch von einem individuellen Bewusstsein ausgewählt, gefiltert, erarbeitet, verdichtet worden ist und sich somit einer je persönlichen Sehweise verpflichtet weiß […] Ihre Abbilder […] enthüllen insgesamt betrachtet eine klare Stellungnahme zur Wirklichkeit und manchmal […] eine nachhaltige Wirklichkeitsvision.»8
Während der Arbeit in Cloppenburg fiel 1989 die Mauer. Im Zuge der Perestroika hatte die Führung der UdSSR unter Präsident Gorbatschow 1991 beschlossen, Teile der in der DDR stationierten Sowjetarmee abzuziehen. In den Wiedervereinigungsverhandlungen wurden dann die komplette Auflösung der Standorte und der totale Rückzug der früheren Besatzungstruppe beschlossen. Der historische Moment des Zusammenbruchs der politischen Nachkriegsordnung war für Laurenz Berges Anlass einer Serie von Bildern, die er zwischen 1991 und 1995 in verschiedenen, inzwischen aufgelösten und leerstehenden Kasernen der Sowjetarmee im Osten Deutschlands fotografierte. Er folgte damit einer Auffassung von Walker Evans, die Gegenwart auf ihr mögliches Potential hin zu untersuchen, in der Zukunft die Vergangenheit zu erklären – also zeitgenössische Themen und Motive zu finden, in denen sich ganze Prozesse in symbolischen Bildern verdichten lassen. In einem Text zu dieser Serie von Kasernenbildern beschreibt Ulrich Bischoff den Beweggrund für die Beschäftigung einer jüngeren Generation mit dem eigenen Land, die bereits in Berges’ Werk nach seiner Rückkehr aus den USA angelegt ist: »Als nach der Entfernung der politischen Korsettstangen die Wege zu den innerdeutschen Grenzen offenstanden und die ehemaligen Besatzer aus der Sowjetunion nach und nach das Terrain freigaben, wurde das eigene Land, das eigene Umfeld Gegenstand neugieriger Erforschung. Die in der klassischen Ethnologie hauptsächlich in Untersuchungsbereichen, die bisher unter dem alten Stichwort ›fremde Kulturen‹ zusammengefasst wurden, zur Anwendung kommende Feldforschung wird in der jüngeren Kunst zunehmend auf die eigene Kultur angewandt. Laurenz Berges braucht für die Begegnung mit dem Fremden nicht mehr exotische Länder.« In der Tat lässt sich festhalten, dass in der Fotografie des 20. Jahrhunderts, beginnend mit so unterschiedlichen Ansätzen wie den fotografischen Momentaufnahmen und Milieustudien des Berliner Zeichners Heinrich Zille bis zu den Ansichten des alten Paris von Eugène Atget, die Beschäftigung mit dem eigenen Lebensumfeld zu verschiedenen, interessanten und überzeugenden Beispielen von Alltagsbeschreibung und damit zu einer Hinwendung zum scheinbar Banalen und seiner besonderen Wertschätzung geführt hat.
Auf dem Weg zu seinen fotografischen Expeditionen zu den inzwischen von der Sowjetarmee verlassenen Kasernen im Osten Deutschlands machte Laurenz Berges häufig Station in Berlin und traf dort den Fotografen Michael Schmidt, dessen Arbeiten ihn interessierten. Im Lauf der Zeit entstand eine Freundschaft und Schmidt stellte für Berges Kontakt zu Fotografen wie Robert Frank und Lewis Baltz oder zu Peter Galassi, dem Chefkurator der Abteilung Fotografie am Museum of Modern Art, her. Während Michael Schmidt am Anfang seiner Karriere eine dezidiert dokumentarische Auffassung von Fotografie vertreten hatte, die ihre Glaubwürdigkeit durch die Nachvollziehbarkeit ihrer Mittel erzielt, weist sein Werk ab Mitte der 80er Jahre einen wesentlich persönlicher formulierten Zugang aus. Mit dem 1987 präsentierten und publizierten Ausstellungs– und Künstlerbuchprojekt Waffenruhe führte er eine Subjektivierung des Blicks in sein Werk und in die deutsche Dokumentarfotografie ein. In dieser Arbeit verdichtete er atmosphärisch aufgeladene Fotografien zu einem Psychogramm seiner Heimatstadt, die zu diesem Zeitpunkt noch geteilt war, und erzielte damit eine Vorstellung von Urbanität, die universell gültig war. Laurenz Berges zeigte Michael Schmidt seine Fotografien und bezog aus der Auseinandersetzung Energie zur konzentrierten Weiterarbeit an den Aufnahmen der Kasernen, mit denen er sich 1992, ein Jahr vor Abschluss seines Studiums in Essen, an der Kunstakademie Düsseldorf bei Bernd Becher bewarb und aufgenommen wurde.
Bernd und Hilla Becher haben seit Ende der 50er Jahre in einem in der Kunstgeschichte beispiellosen Langzeitprojekt Fachwerkhäuser und anonyme Industriebauten wie Fördertürme, Hochöfen, Kohlebunker, Fabrikhallen, Gasometer und Getreidesilos zu sogenannten Typologien zusammengestellt, die wie Zeitkapseln funktionieren und vergleichendes Betrachten erlauben. Das Fotografenpaar wurde in den 60er Jahren auch wegen seines Einsatzes für die Zeche Zollern II in Dortmund im Ruhrgebiet bekannt, die sie fotografisch dokumentierten und letztlich vor dem Abriss bewahrten. Ihr vielfach ausgezeichnetes Werk wurde zuerst als praktizierter Denkmalschutz, ab den 70er Jahren als Teil der Konzeptkunst und schließlich als künstlerische Fotografie im dokumentarischen Stil verstanden. Zu den Kommilitonen von Laurenz Berges an der Akademie zählten Bernhard Fuchs, Claus Goedicke oder Simone Nieweg, die inzwischen ebenfalls über eigenständige künstlerische Werke verfügen. 1996 beendete er sein Studium als Meisterschüler bei Bernd Becher mit der nun fertiggestellten Serie der Kasernen und arbeitet seitdem als freier Künstler in Düsseldorf.
Bei den in über zwanzig ehemaligen Standorten der Sowjetarmee aufgenommenen Fotografien handelt es sich ausschließlich um Interieurs. Die bei Tageslicht und mit einer Großbildkamera angefertigten Bilder zeigen die leeren Räume, deren ursprüngliche Funktion nur noch an Details ablesbar ist. Für deren Darstellung wählte Berges einen Objektabstand, der es ihm ermöglichte, Zusammenhänge aufzuzeigen und die Gegenstände in eindeutig zuzuordnender Umgebung zu verankern. Die zu einer Serie angeordneten Bilder sind durch eine fahl gehaltene Farbigkeit vereint, die die Tristesse der Räume und ein Gefühl der Verlorenheit unterstreicht – sowie eine Erfahrung von Stille ermöglicht. In der Summe entsteht eine indirekte Beschreibung einer historischen Situation mit fotografischen Mitteln. Der Auffassung, dass dabei scheinbar Nebensächliches Bedeutung entwickeln kann, bleibt Berges bis heute treu.
In den verlassenen Dörfern der westdeutschen Region des Braunkohletageabbaus zwischen Köln und Aachen fand er das Thema für seine nächste Serie. In den von den Bewohnern aufgegebenen Ortschaften mit ihren Einfamilienhäusern fotografierte er von 1999 bis 2003 die Spuren ihres ehemaligen Gebrauchs. Das Resultat sind ausschnitthafte, minimalistische Bilder, die aufgrund ihrer Reduktion fast widerwillig ihre Geschichte erzählen. Diese handelt von der existenziellen Bedeutung bestimmter Räume für unsere Identität, aber auch von deren Vergänglichkeit und ihrem Verlust. »Berges ist ein Spurensucher, der mit seiner Kamera bevorzugt solche Orte aufsucht, die Menschen nach jahrelangem Bewohnen aufgegeben haben. Was lassen wir in jenen Räumen zurück, die uns einmal Schutz und Heimat waren, und wie verändern sich diese Rückstände und die Räume selbst mit der Zeit? Bleiben sie gültige Boten unserer Gegenwart?«
Bereits in dieser Serie öffnet Laurenz Berges sein Motivrepertoire; seine Aufnahmen zeigen nicht mehr nur Innenräume, sondern auch Blicke aus Fenstern und damit Landschaft sowie Situationen im Bereich vor den Gebäuden, in denen zunehmend die Natur die Überhand gewinnt. In seinen seit 2005 entstandenen Fotografien, die hier erstmals im Zusammenhang veröffentlicht werden, hat Berges seine Stilmittel konsequent weiterentwickelt. Die Arbeitsweise ist nach wie vor dieselbe: Nach gründlicher Recherche vor Ort beginnt die praktische, oft aus der Intuition heraus entstehende Arbeit. Dabei setzt Berges eine Großbildkamera ein, die nur vom Stativ aus genutzt werden kann. Das Fotografieren mit ihr ist umständlich, denn der Apparat ist schwer und verfügt über viele Einstellmöglichkeiten. Nachdem der Fotograf unter einem schwarzen Tuch auf der Mattscheibe das auf dem Kopf stehende Motiv komponiert, den Bildausschnitt festgelegt und scharf eingestellt hat, wird abgeblendet und eine entsprechende Belichtungszeit eingestellt, der Verschluss gespannt und eine Kassette mit einem Planfilm eingelegt. Wenn nun der Schieber aus der Kassette herausgenommen wird, ist der Film zur Belichtung bereit. Der Fotograf steht im Moment der Aufnahme neben der Kamera und wartet, um im »entscheidenden Moment« auszulösen, dem Augenblick, in dem seine Objekte ihre latenten Verbindungen offenbaren. Da Planfilme teuer sind und nur wenige Filmkassetten mitgenommen werden können, ist sorgfältiges und konzentriertes Arbeiten wichtig. Motivwahl, Kameraformat, Objektivbrennweite, Standpunkt, Ausschnitt, Moment des Auslösens, Licht sind dabei die Faktoren, die bei einer systematisierten Anwendung in Verbindung mit der Präsentation der Arbeiten – Farbgebung, Größe des Abzugs, Rahmung und Aufarbeitung – in ihrer Summe eine Handschrift des Fotografen generieren und zu einer Wiedererkennbarkeit führen, die es erlaubt, in diesem Zusammenhang von Stil und einem Autor zu sprechen.
Ein weiteres Mittel der Autorenschaft sind die Anordnung und Präsentation der Bilder in Büchern und Ausstellungen, also das Arrangement der Einzelbilder zu einem Kontext – zur Serie, zum Tableau, zur Sequenz. Eine zusätzliche Betrachtungsebene entsteht in der Summe der Exponate oder Abbildungen, auf deren Grundlage das jeweilige Einzelbild erst in seiner vollen formalen und inhaltlichen Bedeutung zu erfassen ist. Im Gegensatz zur Fotoreportage, die aus dem Nebeneinander visueller Superlative besteht, wird so eine Dramaturgie des Alltäglichen entwickelt, die auch das scheinbar Nebensächliche zulässt und ihm Bedeutung verleiht. Die Ergebnisse dieser künstlerischen Konstruktion faszinieren nachhaltig, weil sie nicht einfach die Fantasie des Betrachters illustrieren oder sichtbare Phänomene bildlich überhöhen. Vielmehr hat der Fotograf bei der Gestaltung seiner Aufnahmen die Objekte in einen beziehungsreichen Dialog gesetzt, an dem der Betrachter teilhaben kann. Weil er ihn als gleichberechtigten Partner bei der Analyse der Wirklichkeit begreift und die Möglichkeit individueller Deutung zulässt, verankern sich die Bilder fest im Gedächtnis und entfalten dort langsam ihre Wirkung. Dieser Prozess kann in der Folge die Wahrnehmung so sehr beherrschen, dass in ihm bei der realen Begegnung mit den Objekten immer auch die Motive der künstlerischen Arbeit gesehen werden. Ist dies der Fall, hat der Fotograf das Unterbewusstsein des Betrachters kolonisiert und für ein verändertes Verständnis von Welt sensibilisiert.
Die Arbeiten von Laurenz Berges sind von einer Melancholie geprägt, die auch die Werke der von ihm besonders geschätzten Fotografen Walker Evans und Robert Frank auszeichnet. Ihre Art der Fotografie, die etwas im Verschwinden Begriffenes festhalten will, ist nicht romantisch oder verklärend, sie benennt in einer persönlichen Formensprache einen Verlust und seine Bedeutung. Dabei kommt es zu dem Paradox, dass sie aufgrund ihrer Gestaltung zeitlos wirkt und durch ihre Zugänglichkeit und Beispielhaftigkeit andauernde Gültigkeit entwickeln kann, während sie doch zugleich eindeutig in der Vergangenheit angesiedelt ist.
Waren die ersten Serien von Laurenz Berges einem Ort oder Thema gewidmet, sind die in den letzten Jahren entstandenen Fotografien nicht mehr eindeutig diesen Kriterien zuzuordnen. Wenn Klaus Honnef feststellt, dass »zu jedem Autorenfotografen eine fest umrissene Haltung angesichts der Wirklichkeit« gehört, äußert sich diese bei Berges in der Wahl seiner Motive und ihrer künstlerischen Umsetzung. Während die Serien der Kasernen und aufgegebenen Wohnorte Auswirkungen politischer und wirtschaftlicher Prozesse zeigen, sind die Ursachen der Veränderungen in den neuen Arbeiten weniger klar zu benennen. Szenarien leerer Räume wechseln sich bei den zu einer Serie arrangierten Einzelbildern mit Aufnahmen ab, die im Freien entstanden. Jedes der Motive ist aufgeladen und gekennzeichnet von einer Atmosphäre der Verlassenheit und Veränderung. Abblätternde Farbe, sich lösende Tapeten, Schatten früherer Bilder an den Wänden, zurückgelassene Gegenstände erzählen von der Nutzung der Räume durch ihre ehemaligen Bewohner, während die Häuser, Gehwege und die sie umgebende Vegetation in einem Prozess der Mutation, einer Art existenzieller Rückbildung begriffen zu sein scheinen. Dieses Gefühl einer schleichenden Transformation verstärkt der Autor durch sorgfältig gesetzte Anschnitte der Motive, die die Bilder über den Rand hinaus erweitern. Beim Film spricht man vom »Off«, wenn Informationen über etwas zu erhalten sind, das noch nicht oder nicht mehr im Bild sichtbar ist. Diesen Effekt nutzt auch Berges und ermöglicht damit eine weiterführende und aktive Form der Interpretation seiner Werke. Die unterschiedlichen Motive werden schließlich durch die bewusste Farbgebung der Abzüge vereint. Ein bedeckter Himmel oder indirekt in die Räume einfallendes Licht konturiert die Objekte, die in verhaltenen Farben wiedergegeben werden.
»Er hat gewartet, bis das weiche Tageslicht die kargen Räume mit Volumen gefüllt hat.« So beschreibt Ulrich Bischoff die Lichtführung von Laurenz Berges, die das Resultat geduldigen Abwartens ist und in den von ihm selbst abgezogenen Farbfotografien eine verführerische Qualität entwickelt.
In einer Zeit, in der Fotografien in Sekundenbruchteilen ihren Inhalt offenbaren und das Wer, Wie, Wo, Was und Warum beantworten sollen, also auf schnelle Lesbarkeit angelegt sind, um im Wettkampf der berichtenden Medien zu bestehen, knüpft eine jüngere Fotografengeneration an die Traditionen einer präziseren Wirklichkeitsbeschreibung an. Durch die verwendeten Plattenkameras erhalten sie großformatige Negative, deren Abzüge mit Informationen regelrecht gespickt sind. Auch bei größeren Bildformaten bleibt es so möglich, die Gegenstände scharf, detailliert, farb– und materialgetreu darzustellen. Die Langsamkeit und Präzision der Herstellung der Arbeiten scheint auch die Betrachtung zu beeinflussen, ihr das Tempo zu nehmen und eine veränderte Form der Betrachtung, ein genaues Studium, zu ermöglichen. Seinen reduzierten Bildern hat Berges alle vordergründigen Informationen entzogen. Sie verweigern die immer wieder an das Medium gestellten Erwartungen nach schneller Lesbarkeit und stellen mehr Fragen als sie beantworten. All das fördert die Konzentration auf ihre Bildsprache.
»Zur Zeit fotografiere ich an verschiedenen Orten und die Sujets sind unterschiedlich und nicht mehr thematisch unter einem Oberbegriff zu fassen wie bei den vorausgegangenen Serien. Es geht um das einzelne Bild. Und dann habe ich eine ganze Zeit zu der Frage gearbeitet, wie wenig ›Information‹ eine Fotografie haben kann, bevor sie in die von mir nicht angestrebte Abstraktion abrutscht, wie reduziert das Bild sein darf und trotzdem noch etwas ›erzählt‹.« Mit seinem Beharren auf der Weiterentwicklung der formalen Sprache der Fotografie löst sich Laurenz Berges vom rein dokumentarischen Anspruch und eröffnet eine reiche Welt individueller Assoziationen, die in jedem noch so kleinen Detail angelegt sind. In seinen Büchern oder Ausstellungen konstruiert er mit den in den Einzelbildern behandelten Aspekten einen Essay, der den ständigen Verwandlungsprozess des Lebens und die Fragilität menschlicher Existenz zum Thema hat. Durch Verlangsamung und Verführung ermöglicht Laurenz Berges dem Betrachter eine neue Erfahrung von Veränderung, Verlust und Geschichte in der Form einer indirekten Erzählung.