Indirekte Erzählung

Als Laurenz Berges 1985 in sei­ner Heimatstadt Cloppenburg in einer Buchhandlung ein Exemplar von First and Last von Walker Evans ent­deckte, kaufte er sich den Band von sei­nem Geburtstagsgeld. Es war sein ers­tes Fotobuch und er schätzt es noch heute. Die 1978 erschie­nene Monografie ist ein rei­ner Bilderband, der mit exem­pla­ri­schen Aufnahmen das Werk des legen­dä­ren und stil­bil­den­den ame­ri­ka­ni­schen Fotografen vor­stellt. Die Lektüre der Fotografien wird von kei­nem Text gestört, ledig­lich der Klappentext des Schutzumschlags gibt kurz Auskunft über den Autor und beschreibt seine Arbeit. Das Buch ent­hält »Portraits, Straßenszenen und das, was Hilton Kramer die ›spe­zi­elle Evans-Landschaft‹ nennt, die Dinge, Strukturen, Oberflächen und Räume des ame­ri­ka­ni­schen Alltags: in denen er etwas Poetisches sah, etwas, das es zu schät­zen und zu ret­ten galt — Wohnräume, Straßen, Kirchen, Banken, Läden und Schilder, sie alle erzäh­len von den Menschen, die sie her­vor­ge­bracht, bewohnt oder ver­las­sen haben.«

Walker Evans’ Fotografien gehö­ren zum ame­ri­ka­ni­schen Kulturgut des 20. Jahrhunderts. Vor allem seine im Rahmen des Fotoprojekts der Farm Security Administration Mitte der 30er Jahre auf­ge­nom­me­nen ein­drück­li­chen Portraits der an den Auswirkungen der gro­ßen wirt­schaft­li­chen Krise und einer Dürre lei­den­den und von ihr gezeich­ne­ten Landbevölkerung des ame­ri­ka­ni­schen Südens haben sich in das kol­lek­tive Gedächtnis der Amerikaner ein­ge­schrie­ben. Zusammen mit den Innenaufnahmen der ärm­li­chen Behausungen der Farmer ergibt sich ein visu­el­ler Zustandsbericht, der trotz sei­ner hohen bild­ne­ri­schen Qualität vor­ran­gig als doku­men­ta­risch ein­ge­ord­net und als Gesellschaftsbild ver­stan­den wird.

Unter einer doku­men­ta­ri­schen Fotografie wird eine Bildauffassung ver­stan­den, die die Gegenstände schein­bar direkt und ohne offen­sicht­li­che Interpretation wie­der­gibt. Aufgrund der ihr zuge­spro­che­nen Neutralität steht sie für Glaubwürdigkeit, Nachvollziehbarkeit und damit für Anwendbarkeit. In einem Interview geht Walker Evans 1971 auf diese Eigenschaften ein, defi­niert aber seine Fotografie anders: »Dokumentarisch? Das ist ein sehr kom­ple­xer und irre­füh­ren­der Begriff. Und er ist nicht wirk­lich klar. Man braucht ein kom­ple­xes Ohr, um ihn zu emp­fan­gen. Der rich­tige Ausdruck wäre doku­men­ta­ri­scher Stil. Das Polizeifoto vom Tatort eines Mordes ist ein ech­tes Dokument. Dokumente die­nen einem Zweck, die Kunst dage­gen ist zweck­frei. Daher ist die Kunst nie Dokument, aber sie kann natür­lich den Stil übernehmen.«

Mit die­ser Unterscheidung zwi­schen einer dem ange­wand­ten Bereich zuge­ord­ne­ten Form der Fotografie und einer Fotografie, die sich aus künst­le­ri­schen Kriterien her­aus ent­wi­ckelt, sind die bei­den Pole und unter­schied­li­chen Charaktere der Dokumentarfotografie beschrie­ben. Ist ihre tra­di­tio­nelle Form dar­auf gerich­tet, die sicht­bare Welt mög­lichst wirk­lich­keits­ge­nau wie­der­zu­ge­ben, steht der doku­men­ta­ri­sche Stil für eine Weltsicht in der Form des Dokuments. Das ist ein ent­schei­den­der Unterschied, der die eine Fotografie im Dienst eines Auftraggebers sieht, wäh­rend die andere sich auf eine Tradition des per­sön­li­chen Blicks und damit auf einen foto­gra­fi­schen Autor beruft. Während es bei der einen Art von Dokumentarfotografie also darum geht, mit foto­gra­fi­schen Mitteln eine mög­lichst genaue Darstellung der Welt zu errei­chen, ist das Ziel der ande­ren, eine sub­jek­tiv begrün­dete Vorstellung von Welt zu formulieren.

 

Mit Kunst und Fotografie hatte sich Laurenz Berges bereits in sei­ner Jugend beschäf­tigt. Seine Eltern sam­mel­ten infor­melle Kunst und die Auseinandersetzung mit ihr war selbst­ver­ständ­lich. Auf dem Dachboden des Hauses der Großeltern fand er die Schweizer Magazine Du und Magnum aus den 50er und 60er Jahren, die unter­schied­li­che Gebrauchsweisen des Mediums zeig­ten und ihn beein­druck­ten. Mit vier­zehn Jahren bekam er eine Kamera geschenkt, rich­tete sich zu Hause eine Dunkelkammer in der Waschküche ein und ver­grö­ßerte seine eige­nen Schwarzweiß-Aufnahmen. Von die­sem Zeitpunkt an war es sein Berufswunsch, Fotograf zu wer­den. Im Rahmen sei­nes Wahlfachs Kunst begann Laurenz Berges, eine Serie über einen Bahnwärter zu foto­gra­fie­ren, der in einem Stellwerk in Cloppenburg die Schranken bediente. Als er mit die­sen Abzügen nach dem Abitur an der Folkwangschule in Essen ange­nom­men wurde, arbei­tete er gerade als freier Fotograf für die Neue Osnabrücker Zeitung. Sein Praktikum machte er bei der Fotoagentur Visum in Hamburg, wo ihn beson­ders einer der Gründer, der ehe­ma­lige Folkwangstudent Rudi Meisel, als Mentor betreute. Das Studium in Essen absol­vierte Laurenz Berges fast aus­schließ­lich bei der lang­jäh­ri­gen Professorin Inge Osswald. Die Schule war zu die­sem Zeitpunkt nicht mehr die ein­zige, aber eine der wich­tigs­ten Ausbildungseinrichtungen für Fotografie in der Bundesrepublik Deutschland und stand noch immer unter dem Einfluss ihres cha­ris­ma­ti­schen Leiters, dem 1978 ver­stor­be­nen Lehrer Otto Steinert. Dieser hatte in den 50er Jahren den Begriff der Subjektiven Fotografie geprägt, einer Fotografie, die sich an den Experimenten der Protagonisten des Bauhauses ori­en­tierte oder auch auf eine spe­zi­fi­sche Form der Bearbeitung des Bildmaterials in der Dunkelkammer setzte. Neben der Propagierung die­ser freien Form der Fotografie bestand Steinert im Rahmen der Ausbildung auf einer Beschäftigung mit dem Fotojournalismus, in dem er nicht nur eine Möglichkeit der Existenzsicherung sah. Dieser Tradition der Vermittlung folgte die Lehre im Prinzip auch noch zur Studienzeit von Laurenz Berges.

Bereits Anfang der 80er Jahre war das Interesse einer jün­ge­ren Fotografengeneration an der neuen Ausdrucksmöglichkeit der Farbfotografie groß, und so rich­tete die Folkwangschule als erste Hochschule ein eige­nes Farblabor ein. Die Studierenden nutz­ten die Farbentwicklungsmaschine unter Anleitung eines Laboranten, um ihre eige­nen Abzüge her­zu­stel­len. Individuelle Farbinterpretationen waren so mög­lich und tru­gen zur Wiedererkennbarkeit ihrer Arbeiten bei. Diese Möglichkeit war attrak­tiv und auch ein Grund für Laurenz Berges, dort zu stu­die­ren. Nach eini­gen Semestern unter­brach er aber seine Ausbildung und arbei­tete für ein Jahr als Assistent von Evelyn Hofer, einer deutsch­stäm­mi­gen Fotografin, die 1922 in Marburg gebo­ren wurde und nach einer Ausbildung in der Schweiz 1942 über Mexiko nach New York gelangte, wo sie ab 1946 arbei­tete und sich mit Städtebüchern und Portraits einen Namen gemacht hatte. Als Laurenz Berges ihr 1988 in New York assis­tierte, begeg­nete er so pro­mi­nen­ten Modellen wie dem Architekten I. M. Pei, dem Künstler David Salle oder dem Fotografen Hans Namuth. In sei­ner freien Zeit traf er zufäl­lig auf der Straße Fotolegenden wie Alfred Eisenstaedt oder Lee Friedlander. Im International Center of Photography besuchte er einen Vortrag von Berenice Abbott und im Museum of Modern Art ent­deckte er das Fotoprojekt Waffenruhe von Michael Schmidt wie­der, das er bereits ein Jahr zuvor bei sei­ner Premiere in der Berlinischen Galerie im Gropiusbau in Berlin und im Anschluss im Folkwang Museum in Essen gese­hen hatte, und das nun im Rahmen der Ausstellungsreihe »New Photography« gezeigt wurde. Der Aufenthalt in New York war anre­gend, instru­ie­rend und infor­ma­tiv. In die­ser Zeit foto­gra­fierte Laurenz Berges in Midtown Manhattan Straßenszenen, die von der Faszination der Metropole und ihrer Bewohner berich­ten und for­mal in der Tradition der ame­ri­ka­ni­schen Farbfotografie der 70er Jahre ste­hen. Von Evelyn Hofer über­nahm Laurenz Berges die Arbeitsmethode, ein Thema zuerst schrift­lich zu for­mu­lie­ren, mög­li­che Motivorte vor der Aufnahme zu besu­chen sowie die jewei­li­gen Hintergründe und Zusammenhänge zu recherchieren.

Als Laurenz Berges, auf­ge­la­den mit sei­nen New Yorker Erfahrungen, sein Studium in Essen wie­der­auf­nahm, emp­fand er die inhalt­li­che Auseinandersetzung mit den Dozenten, aber auch sei­nen Kommilitonen als zuneh­mend unbe­frie­di­gend. Er sah nun seine zukünf­tige Arbeit nicht mehr im foto­jour­na­lis­ti­schen, son­dern im künst­le­ri­schen Bereich der Fotografie. Durch seine spä­tere Frau, die Grafikerin Claudia Ott, erhielt er zuneh­mend Kontakt zur Düsseldorfer Kunst– und Fotografieszene. Er lernte Axel Hütte, Thomas Ruff und Andreas Gursky ken­nen, die bei Bernd Becher an der Düsseldorfer Akademie stu­diert hat­ten, der dort seit 1976 eine Klasse für Fotografie unter­rich­tete. In die­ser Zeit begann Laurenz Berges in sei­ner nord­deut­schen Heimatstadt Cloppenburg zu foto­gra­fie­ren. Der Kontrast zwi­schen dem pul­sie­ren­den Manhattan und der beschau­li­chen Kreisstadt mit 20.000 Einwohnern konnte nicht grö­ßer sein, aber die­ser Unterschied ermög­lichte es ihm, die ver­traute Umgebung neu wahr­zu­neh­men. In der Folge ent­stan­den zwi­schen 1989 und 1990 mit einer Mittelformatkamera Farbaufnahmen, die Über­gänge zwi­schen Stadt und Land, Wohngebiete und Landschaften zei­gen. In die­sen Fotografien for­mu­liert Laurenz Berges eine von Sympathie getra­gene bild­li­che Analyse sei­ner Heimat. Die Fotografien gehen weit über das direkt Abgebildete hin­aus und erzäh­len von den »char­man­ten Banalitäten« und prä­gen­den Faktoren eines Lebens in einer länd­li­chen Kleinstadt.

Neben der homo­gen in ver­hal­te­nen Tönen gesteu­er­ten Farbigkeit sind die zurück­ge­nom­mene Gestaltung der Bilder und Präzision der Darstellung auf­fäl­lig. Laurenz Berges arbei­tete in der Tradition einer doku­men­ta­ri­schen Fotografie der 20er Jahre wei­ter, die in Deutschland ab Mitte der 70er Jahre, aus­ge­hend von einer topo­gra­fi­schen Fotografie in den USA, wie­der­auf­ge­nom­men und fort­ge­führt wurde. 1989 hatte Klaus Honnef in der Ausstellung In Deutschland – Aspekte gegen­wär­ti­ger Dokumentarfotografie die füh­ren­den Protagonisten Westdeutschlands, unter ihnen Bernd und Hilla Becher, Heinrich Riebesehl, Michael Schmidt und Wilhelm Schürmann sowie jün­gere Fotografen aus Berlin und Düsseldorf prä­sen­tiert und sie im Katalog in einen his­to­ri­schen Bezug zu Fotografen wie Eugène Atget, August Sander und Walker Evans gesetzt. In sei­nem Text führt er den Begriff des Autorenfotografen ein, den er in Anlehnung an den Autorenfilmer defi­niert. Nach Honnefs Beschreibung schafft der Autorenfotograf in sei­nem Werk »eine foto­gra­fi­sche Realität, die zwar authen­tisch ist, weil sie sich streng an die doku­men­ta­ri­schen Prinzipien der Fotografie hält, aber doch von einem indi­vi­du­el­len Bewusstsein aus­ge­wählt, gefil­tert, erar­bei­tet, ver­dich­tet wor­den ist und sich somit einer je per­sön­li­chen Sehweise ver­pflich­tet weiß […] Ihre Abbilder […] ent­hül­len ins­ge­samt betrach­tet eine klare Stellungnahme zur Wirklichkeit und manch­mal […] eine nach­hal­tige Wirklichkeitsvision.»8

Während der Arbeit in Cloppenburg fiel 1989 die Mauer. Im Zuge der Perestroika hatte die Führung der UdSSR unter Präsident Gorbatschow 1991 beschlos­sen, Teile der in der DDR sta­tio­nier­ten Sowjetarmee abzu­zie­hen. In den Wiedervereinigungsverhandlungen wur­den dann die kom­plette Auflösung der Standorte und der totale Rückzug der frü­he­ren Besatzungstruppe beschlos­sen. Der his­to­ri­sche Moment des Zusammenbruchs der poli­ti­schen Nachkriegsordnung war für Laurenz Berges Anlass einer Serie von Bildern, die er zwi­schen 1991 und 1995 in ver­schie­de­nen, inzwi­schen auf­ge­lös­ten und leer­ste­hen­den Kasernen der Sowjetarmee im Osten Deutschlands foto­gra­fierte. Er folgte damit einer Auffassung von Walker Evans, die Gegenwart auf ihr mög­li­ches Potential hin zu unter­su­chen, in der Zukunft die Vergangenheit zu erklä­ren – also zeit­ge­nös­si­sche Themen und Motive zu fin­den, in denen sich ganze Prozesse in sym­bo­li­schen Bildern ver­dich­ten las­sen. In einem Text zu die­ser Serie von Kasernenbildern beschreibt Ulrich Bischoff den Beweggrund für die Beschäftigung einer jün­ge­ren Generation mit dem eige­nen Land, die bereits in Berges’ Werk nach sei­ner Rückkehr aus den USA ange­legt ist: »Als nach der Entfernung der poli­ti­schen Korsettstangen die Wege zu den inner­deut­schen Grenzen offen­stan­den und die ehe­ma­li­gen Besatzer aus der Sowjetunion nach und nach das Terrain frei­ga­ben, wurde das eigene Land, das eigene Umfeld Gegenstand neu­gie­ri­ger Erforschung. Die in der klas­si­schen Ethnologie haupt­säch­lich in Untersuchungsbereichen, die bis­her unter dem alten Stichwort ›fremde Kulturen‹ zusam­men­ge­fasst wur­den, zur Anwendung kom­mende Feldforschung wird in der jün­ge­ren Kunst zuneh­mend auf die eigene Kultur ange­wandt. Laurenz Berges braucht für die Begegnung mit dem Fremden nicht mehr exo­ti­sche Länder.« In der Tat lässt sich fest­hal­ten, dass in der Fotografie des 20. Jahrhunderts, begin­nend mit so unter­schied­li­chen Ansätzen wie den foto­gra­fi­schen Momentaufnahmen und Milieustudien des Berliner Zeichners Heinrich Zille bis zu den Ansichten des alten Paris von Eugène Atget, die Beschäftigung mit dem eige­nen Lebensumfeld zu ver­schie­de­nen, inter­es­san­ten und über­zeu­gen­den Beispielen von Alltagsbeschreibung und damit zu einer Hinwendung zum schein­bar Banalen und sei­ner beson­de­ren Wertschätzung geführt hat.

 

Auf dem Weg zu sei­nen foto­gra­fi­schen Expeditionen zu den inzwi­schen von der Sowjetarmee ver­las­se­nen Kasernen im Osten Deutschlands machte Laurenz Berges häu­fig Station in Berlin und traf dort den Fotografen Michael Schmidt, des­sen Arbeiten ihn inter­es­sier­ten. Im Lauf der Zeit ent­stand eine Freundschaft und Schmidt stellte für Berges Kontakt zu Fotografen wie Robert Frank und Lewis Baltz oder zu Peter Galassi, dem Chefkurator der Abteilung Fotografie am Museum of Modern Art, her. Während Michael Schmidt am Anfang sei­ner Karriere eine dezi­diert doku­men­ta­ri­sche Auffassung von Fotografie ver­tre­ten hatte, die ihre Glaubwürdigkeit durch die Nachvollziehbarkeit ihrer Mittel erzielt, weist sein Werk ab Mitte der 80er Jahre einen wesent­lich per­sön­li­cher for­mu­lier­ten Zugang aus. Mit dem 1987 prä­sen­tier­ten und publi­zier­ten Ausstellungs– und Künstlerbuchprojekt Waffenruhe führte er eine Subjektivierung des Blicks in sein Werk und in die deut­sche Dokumentarfotografie ein. In die­ser Arbeit ver­dich­tete er atmo­sphä­risch auf­ge­la­dene Fotografien zu einem Psychogramm sei­ner Heimatstadt, die zu die­sem Zeitpunkt noch geteilt war, und erzielte damit eine Vorstellung von Urbanität, die uni­ver­sell gül­tig war. Laurenz Berges zeigte Michael Schmidt seine Fotografien und bezog aus der Auseinandersetzung Energie zur kon­zen­trier­ten Weiterarbeit an den Aufnahmen der Kasernen, mit denen er sich 1992, ein Jahr vor Abschluss sei­nes Studiums in Essen, an der Kunstakademie Düsseldorf bei Bernd Becher bewarb und auf­ge­nom­men wurde.

Bernd und Hilla Becher haben seit Ende der 50er Jahre in einem in der Kunstgeschichte bei­spiel­lo­sen Langzeitprojekt Fachwerkhäuser und anonyme Industriebauten wie Fördertürme, Hochöfen, Kohlebunker, Fabrikhallen, Gasometer und Getreidesilos zu soge­nann­ten Typologien zusam­men­ge­stellt, die wie Zeitkapseln funk­tio­nie­ren und ver­glei­chen­des Betrachten erlau­ben. Das Fotografenpaar wurde in den 60er Jahren auch wegen sei­nes Einsatzes für die Zeche Zollern II in Dortmund im Ruhrgebiet bekannt, die sie foto­gra­fisch doku­men­tier­ten und letzt­lich vor dem Abriss bewahr­ten. Ihr viel­fach aus­ge­zeich­ne­tes Werk wurde zuerst als prak­ti­zier­ter Denkmalschutz, ab den 70er Jahren als Teil der Konzeptkunst und schließ­lich als künst­le­ri­sche Fotografie im doku­men­ta­ri­schen Stil ver­stan­den. Zu den Kommilitonen von Laurenz Berges an der Akademie zähl­ten Bernhard Fuchs, Claus Goedicke oder Simone Nieweg, die inzwi­schen eben­falls über eigen­stän­dige künst­le­ri­sche Werke ver­fü­gen. 1996 been­dete er sein Studium als Meisterschüler bei Bernd Becher mit der nun fer­tig­ge­stell­ten Serie der Kasernen und arbei­tet seit­dem als freier Künstler in Düsseldorf.

 

 

Bei den in über zwan­zig ehe­ma­li­gen Standorten der Sowjetarmee auf­ge­nom­me­nen Fotografien han­delt es sich aus­schließ­lich um Interieurs. Die bei Tageslicht und mit einer Großbildkamera ange­fer­tig­ten Bilder zei­gen die lee­ren Räume, deren ursprüng­li­che Funktion nur noch an Details ables­bar ist. Für deren Darstellung wählte Berges einen Objektabstand, der es ihm ermög­lichte, Zusammenhänge auf­zu­zei­gen und die Gegenstände in ein­deu­tig zuzu­ord­nen­der Umgebung zu ver­an­kern. Die zu einer Serie ange­ord­ne­ten Bilder sind durch eine fahl gehal­tene Farbigkeit ver­eint, die die Tristesse der Räume und ein Gefühl der Verlorenheit unter­streicht – sowie eine Erfahrung von Stille ermög­licht. In der Summe ent­steht eine indi­rekte Beschreibung einer his­to­ri­schen Situation mit foto­gra­fi­schen Mitteln. Der Auffassung, dass dabei schein­bar Nebensächliches Bedeutung ent­wi­ckeln kann, bleibt Berges bis heute treu.

In den ver­las­se­nen Dörfern der west­deut­schen Region des Braunkohletageabbaus zwi­schen Köln und Aachen fand er das Thema für seine nächste Serie. In den von den Bewohnern auf­ge­ge­be­nen Ortschaften mit ihren Einfamilienhäusern foto­gra­fierte er von 1999 bis 2003 die Spuren ihres ehe­ma­li­gen Gebrauchs. Das Resultat sind aus­schnitt­hafte, mini­ma­lis­ti­sche Bilder, die auf­grund ihrer Reduktion fast wider­wil­lig ihre Geschichte erzäh­len. Diese han­delt von der exis­ten­zi­el­len Bedeutung bestimm­ter Räume für unsere Identität, aber auch von deren Vergänglichkeit und ihrem Verlust. »Berges ist ein Spurensucher, der mit sei­ner Kamera bevor­zugt sol­che Orte auf­sucht, die Menschen nach jah­re­lan­gem Bewohnen auf­ge­ge­ben haben. Was las­sen wir in jenen Räumen zurück, die uns ein­mal Schutz und Heimat waren, und wie ver­än­dern sich diese Rückstände und die Räume selbst mit der Zeit? Bleiben sie gül­tige Boten unse­rer Gegenwart?«

Bereits in die­ser Serie öff­net Laurenz Berges sein Motivrepertoire; seine Aufnahmen zei­gen nicht mehr nur Innenräume, son­dern auch Blicke aus Fenstern und damit Landschaft sowie Situationen im Bereich vor den Gebäuden, in denen zuneh­mend die Natur die Über­hand gewinnt. In sei­nen seit 2005 ent­stan­de­nen Fotografien, die hier erst­mals im Zusammenhang ver­öf­fent­licht wer­den, hat Berges seine Stilmittel kon­se­quent wei­ter­ent­wi­ckelt. Die Arbeitsweise ist nach wie vor die­selbe: Nach gründ­li­cher Recherche vor Ort beginnt die prak­ti­sche, oft aus der Intuition her­aus ent­ste­hende Arbeit. Dabei setzt Berges eine Großbildkamera ein, die nur vom Stativ aus genutzt wer­den kann. Das Fotografieren mit ihr ist umständ­lich, denn der Apparat ist schwer und ver­fügt über viele Einstellmöglichkeiten. Nachdem der Fotograf unter einem schwar­zen Tuch auf der Mattscheibe das auf dem Kopf ste­hende Motiv kom­po­niert, den Bildausschnitt fest­ge­legt und scharf ein­ge­stellt hat, wird abge­blen­det und eine ent­spre­chende Belichtungszeit ein­ge­stellt, der Verschluss gespannt und eine Kassette mit einem Planfilm ein­ge­legt. Wenn nun der Schieber aus der Kassette her­aus­ge­nom­men wird, ist der Film zur Belichtung bereit. Der Fotograf steht im Moment der Aufnahme neben der Kamera und war­tet, um im »ent­schei­den­den Moment« aus­zu­lö­sen, dem Augenblick, in dem seine Objekte ihre laten­ten Verbindungen offen­ba­ren. Da Planfilme teuer sind und nur wenige Filmkassetten mit­ge­nom­men wer­den kön­nen, ist sorg­fäl­ti­ges und kon­zen­trier­tes Arbeiten wich­tig. Motivwahl, Kameraformat, Objektivbrennweite, Standpunkt, Ausschnitt, Moment des Auslösens, Licht sind dabei die Faktoren, die bei einer sys­te­ma­ti­sier­ten Anwendung in Verbindung mit der Präsentation der Arbeiten – Farbgebung, Größe des Abzugs, Rahmung und Aufarbeitung – in ihrer Summe eine Handschrift des Fotografen gene­rie­ren und zu einer Wiedererkennbarkeit füh­ren, die es erlaubt, in die­sem Zusammenhang von Stil und einem Autor zu sprechen.

Ein wei­te­res Mittel der Autorenschaft sind die Anordnung und Präsentation der Bilder in Büchern und Ausstellungen, also das Arrangement der Einzelbilder zu einem Kontext – zur Serie, zum Tableau, zur Sequenz. Eine zusätz­li­che Betrachtungsebene ent­steht in der Summe der Exponate oder Abbildungen, auf deren Grundlage das jewei­lige Einzelbild erst in sei­ner vol­len for­ma­len und inhalt­li­chen Bedeutung zu erfas­sen ist. Im Gegensatz zur Fotoreportage, die aus dem Nebeneinander visu­el­ler Superlative besteht, wird so eine Dramaturgie des Alltäglichen ent­wi­ckelt, die auch das schein­bar Nebensächliche zulässt und ihm Bedeutung ver­leiht. Die Ergebnisse die­ser künst­le­ri­schen Konstruktion fas­zi­nie­ren nach­hal­tig, weil sie nicht ein­fach die Fantasie des Betrachters illus­trie­ren oder sicht­bare Phänomene bild­lich über­hö­hen. Vielmehr hat der Fotograf bei der Gestaltung sei­ner Aufnahmen die Objekte in einen bezie­hungs­rei­chen Dialog gesetzt, an dem der Betrachter teil­ha­ben kann. Weil er ihn als gleich­be­rech­tig­ten Partner bei der Analyse der Wirklichkeit begreift und die Möglichkeit indi­vi­du­el­ler Deutung zulässt, ver­an­kern sich die Bilder fest im Gedächtnis und ent­fal­ten dort lang­sam ihre Wirkung. Dieser Prozess kann in der Folge die Wahrnehmung so sehr beherr­schen, dass in ihm bei der rea­len Begegnung mit den Objekten immer auch die Motive der künst­le­ri­schen Arbeit gese­hen wer­den. Ist dies der Fall, hat der Fotograf das Unterbewusstsein des Betrachters kolo­ni­siert und für ein ver­än­der­tes Verständnis von Welt sensibilisiert.

 

Die Arbeiten von Laurenz Berges sind von einer Melancholie geprägt, die auch die Werke der von ihm beson­ders geschätz­ten Fotografen Walker Evans und Robert Frank aus­zeich­net. Ihre Art der Fotografie, die etwas im Verschwinden Begriffenes fest­hal­ten will, ist nicht roman­tisch oder ver­klä­rend, sie benennt in einer per­sön­li­chen Formensprache einen Verlust und seine Bedeutung. Dabei kommt es zu dem Paradox, dass sie auf­grund ihrer Gestaltung zeit­los wirkt und durch ihre Zugänglichkeit und Beispielhaftigkeit andau­ernde Gültigkeit ent­wi­ckeln kann, wäh­rend sie doch zugleich ein­deu­tig in der Vergangenheit ange­sie­delt ist.

Waren die ers­ten Serien von Laurenz Berges einem Ort oder Thema gewid­met, sind die in den letz­ten Jahren ent­stan­de­nen Fotografien nicht mehr ein­deu­tig die­sen Kriterien zuzu­ord­nen. Wenn Klaus Honnef fest­stellt, dass »zu jedem Autorenfotografen eine fest umris­sene Haltung ange­sichts der Wirklichkeit« gehört, äußert sich diese bei Berges in der Wahl sei­ner Motive und ihrer künst­le­ri­schen Umsetzung. Während die Serien der Kasernen und auf­ge­ge­be­nen Wohnorte Auswirkungen poli­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Prozesse zei­gen, sind die Ursachen der Veränderungen in den neuen Arbeiten weni­ger klar zu benen­nen. Szenarien lee­rer Räume wech­seln sich bei den zu einer Serie arran­gier­ten Einzelbildern mit Aufnahmen ab, die im Freien ent­stan­den. Jedes der Motive ist auf­ge­la­den und gekenn­zeich­net von einer Atmosphäre der Verlassenheit und Veränderung. Abblätternde Farbe, sich lösende Tapeten, Schatten frü­he­rer Bilder an den Wänden, zurück­ge­las­sene Gegenstände erzäh­len von der Nutzung der Räume durch ihre ehe­ma­li­gen Bewohner, wäh­rend die Häuser, Gehwege und die sie umge­bende Vegetation in einem Prozess der Mutation, einer Art exis­ten­zi­el­ler Rückbildung begrif­fen zu sein schei­nen. Dieses Gefühl einer schlei­chen­den Transformation ver­stärkt der Autor durch sorg­fäl­tig gesetzte Anschnitte der Motive, die die Bilder über den Rand hin­aus erwei­tern. Beim Film spricht man vom »Off«, wenn Informationen über etwas zu erhal­ten sind, das noch nicht oder nicht mehr im Bild sicht­bar ist. Diesen Effekt nutzt auch Berges und ermög­licht damit eine wei­ter­füh­rende und aktive Form der Interpretation sei­ner Werke. Die unter­schied­li­chen Motive wer­den schließ­lich durch die bewusste Farbgebung der Abzüge ver­eint. Ein bedeck­ter Himmel oder indi­rekt in die Räume ein­fal­len­des Licht kon­tu­riert die Objekte, die in ver­hal­te­nen Farben wie­der­ge­ge­ben wer­den.
»Er hat gewar­tet, bis das wei­che Tageslicht die kar­gen Räume mit Volumen gefüllt hat.« So beschreibt Ulrich Bischoff die Lichtführung von Laurenz Berges, die das Resultat gedul­di­gen Abwartens ist und in den von ihm selbst abge­zo­ge­nen Farbfotografien eine ver­füh­re­ri­sche Qualität entwickelt.

In einer Zeit, in der Fotografien in Sekundenbruchteilen ihren Inhalt offen­ba­ren und das Wer, Wie, Wo, Was und Warum beant­wor­ten sol­len, also auf schnelle Lesbarkeit ange­legt sind, um im Wettkampf der berich­ten­den Medien zu beste­hen, knüpft eine jün­gere Fotografengeneration an die Traditionen einer prä­zi­se­ren Wirklichkeitsbeschreibung an. Durch die ver­wen­de­ten Plattenkameras erhal­ten sie groß­for­ma­tige Negative, deren Abzüge mit Informationen regel­recht gespickt sind. Auch bei grö­ße­ren Bildformaten bleibt es so mög­lich, die Gegenstände scharf, detail­liert, farb– und mate­ri­al­ge­treu dar­zu­stel­len. Die Langsamkeit und Präzision der Herstellung der Arbeiten scheint auch die Betrachtung zu beein­flus­sen, ihr das Tempo zu neh­men und eine ver­än­derte Form der Betrachtung, ein genaues Studium, zu ermög­li­chen. Seinen redu­zier­ten Bildern hat Berges alle vor­der­grün­di­gen Informationen ent­zo­gen. Sie ver­wei­gern die immer wie­der an das Medium gestell­ten Erwartungen nach schnel­ler Lesbarkeit und stel­len mehr Fragen als sie beant­wor­ten. All das för­dert die Konzentration auf ihre Bildsprache.

»Zur Zeit foto­gra­fiere ich an ver­schie­de­nen Orten und die Sujets sind unter­schied­lich und nicht mehr the­ma­tisch unter einem Oberbegriff zu fas­sen wie bei den vor­aus­ge­gan­ge­nen Serien. Es geht um das ein­zelne Bild. Und dann habe ich eine ganze Zeit zu der Frage gear­bei­tet, wie wenig ›Information‹ eine Fotografie haben kann, bevor sie in die von mir nicht ange­strebte Abstraktion abrutscht, wie redu­ziert das Bild sein darf und trotz­dem noch etwas ›erzählt‹.« Mit sei­nem Beharren auf der Weiterentwicklung der for­ma­len Sprache der Fotografie löst sich Laurenz Berges vom rein doku­men­ta­ri­schen Anspruch und eröff­net eine rei­che Welt indi­vi­du­el­ler Assoziationen, die in jedem noch so klei­nen Detail ange­legt sind. In sei­nen Büchern oder Ausstellungen kon­stru­iert er mit den in den Einzelbildern behan­del­ten Aspekten einen Essay, der den stän­di­gen Verwandlungsprozess des Lebens und die Fragilität mensch­li­cher Existenz zum Thema hat. Durch Verlangsamung und Verführung ermög­licht Laurenz Berges dem Betrachter eine neue Erfahrung von Veränderung, Verlust und Geschichte in der Form einer indi­rek­ten Erzählung.